Jahresbericht 2013 - page 70

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Bildende und darstellende Kunst, Design und Film
Am Originalschauplatz
Ich habe das Kurzstipendium genutzt, um zwei
sechswöchige Programme an der Tisch School of
the Arts der New York University zu besuchen. Da
ich im Moment an meinem ersten Langfilmstoff ar-
beite, der zum Teil auch in New York spielen wird,
erschien mir eine intensive und betreute Schreib-
klausur innerhalb der potentiellen Drehorte sehr
vielversprechend und reizvoll.
Neben den ganz konkreten Ideen, die man nur an
Originalschauplätzen bekommen kann, ist so eine
andere Stadt aber auch grundsätzlich gar nicht so
verkehrt zum Schreiben: Man ist sehr konzentriert
auf seine Ziele und nicht abgelenkt, fühlt sich aber
auch nicht einsam, da es ganz selbstverständlich
ist, dass die Leute nicht anrufen und einen zum
Videoabend einladen. Wenn man blockiert ist oder
einem nichts einfällt, geht man spazieren und
entdecken, ins Theater oder liest ein Drehbuch im
Tompkins Park und hat hier – im Gegensatz zur
Prokrastination in Deutschland – nicht das Gefühl
faul zu sein, sondern bereichert.
Jeden Tag ist hier ein „gallery opening“ oder eine
„performance“. Meistens bedeutet das, viele hip-
pe Leute mit David Bowie Haaren treffen sich –
zum Leidwesen der Performenden meist erst nach
der „Performance“ – in irgendeinem Restaurant
im Westvillage oder Brooklyn. Die Gäste trinken
viel und verdecken quasselnd die vier Bilder an
den Wänden, aus denen die eigentliche „gallery“
besteht. Grundsätzlich sind hier alle „artists“
und die Ausstellungseröffnenden sind meist auch
noch „actresses, producers, directors and writers“,
wenn sie nicht gerade als „photographer“ wirken.
Nix mit „Ich studiere Film“ – nein, da steht eine
21-Jährige vor dir und sagt, sie sei „actress, di-
rector and producer“ und wenn du sie fragst, was
sie gedreht hat, erzählt sie mit strahlenden Augen,
wie sie – ein einziges Mal!!! – die Leiche in einer
Reality-Crime-Show gegeben hat.
Jeder ist dein Freund (nach oben offen). Innerhalb
eines gemeinsamen Abends so viele „sweethearts“
und „gorgeous“ wie in den letzten sechs Wochen
habe ich in meinen gesammelten Beziehungen
nicht gehört. Diese extreme Lobkultur, ob nun
Eigenlob oder Lob anderer, hinterlässt mich et-
was ambivalent. Einerseits macht es mich immer
etwas misstrauisch und gibt den Dingen schnell
den Nachgeschmack der Beliebigkeit. Andererseits
ist es aber auch mal schön, wenn nicht alle sofort
drauflosdemontieren, nachdem sie dich eine Wei-
le mit verschränkten Armen und gerunzelter Stirn
beobachtet haben. In einem sogenannten Lab, in
dem sich eine Gruppe Schauspieler, Regisseure und
Autoren wöchentlich treffen, habe ich eine Szene
mit einer Kommilitonin improvisiert. Ich für mei-
nen Teil fand, wir sind recht schnell etwas stecken
geblieben, aber den „awesomes“ nach zu urteilen
haben wir uns damit für den Oscar fürs Lebens-
werk qualifiziert und ich war erstaunt, wie durstig
wir verstockten Europäer die Schmeicheleien ge-
trunken haben.
Eva Trobisch, Film- und Fernsehregie, London Film School
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