Programmheft 2014 - page 63

Akademie Nizza (La Colle-sur-Loup)
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Arbeitsgruppe 8
Europa vom Süden denken: Die Méditerranée und die
europäische Moderne
Leitung
Dr. Franck Hofmann
Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende
Literaturwissenschaft, Freie Universität Berlin
Dr. Markus Messling
Institut für Romanistik, Universität Potsdam
Teilnehmer
Studierende der Literatur- und Sprachwissenschaften, Philoso-
phie, Kultur-, Geschichts-, Rechts- und Sozialwissenschaften so-
wie der Psychologie
Ob es dem Norden des Kontinents gefällt oder nicht: Im Süden entscheiden sich maß-
gebliche Fragen der Gestaltung europäischer Verfasstheit, vom Umgang mit der Einwan-
derung bis hin zur Stellung der Gesellschaftspolitik im ökonomistischen Diskurs. Zu oft
wird die Wirklichkeit des Südens als Drohszenario beschrieben. Anders der französische
Philosoph Jacques Derrida: Er hat eine Verschiebung der Perspektive offensiv als Notwen-
digkeit einer politisch-kulturellen Neuausrichtung Europas gedeutet. Europa müsse sich
in Bezug auf ein anderes „Kap“ (frz. auch: Ziel), vom Süden her gesellschaftlich erneuern.
Diese Forderung ist – jenseits der ihr eigenen Originalität – für krisenhafte Zeiten nicht
neu. Bereits in den 1930er und 40er Jahren, geprägt vom ‘Untergang’ eines klassizistischen
Humanismus als gemeinsamem europäischem Bildungshorizont in den Weltkriegen,
wenden sich Künstler und Intellektuelle nach Süden, geleitet von einer großen Geschichte
des mittelmeerischen Ursprungs, der Harmonie und Ordnung. Sie müssen jedoch fest-
stellen, dass das einstige identitätspolitische Zentrum nicht mehr schlicht reaktivierbar ist:
Die Idee des Logos verschiebt sich bei Roland Barthes in der Wahrnehmung des griechi-
schen Archipels, Marguerite Yourcenar findet statt eines Athens des „marbre blanc“ einen
alexandrinischen Hellenismus, und der Curtius-Schüler Karl Eugen Gass kommt zu der
„erschütternden Einsicht“, dass sich hinter der Zentralität Roms „jenes unheimliche Va-
kuum [verberge], in dem Sein und Nichts ineinanderfallen und die Mitte des Werdens
angenommen [werde]“. Durch diese Erfahrungen der Moderne hindurch wollen wir re-
flektieren, ob es einen spezifischen Sinn und vielleicht auch Gewinn ergeben kann, Europa
wieder vom Süden her zu denken.
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