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Porträts

Martin Welsch

Postdoktorand

Universität Flensburg

Der Philosoph Martin Welsch erschließt mit seiner Dissertation Kants Staatsdenken neu. Dafür sprach ihm die Jury des Johannes Zilkens-Promotionspreises 2021 eine besondere Anerkennung aus.

Der Welteneröffner

Acht Jahre hat er an seiner Studie zu Kants Spätwerk gearbeitet. Acht Jahre, in denen Martin Welsch in die Sätze des großen deutschen Philosophen der Aufklärung eingetaucht ist, sie analysiert, durchdacht und kommentiert hat. Herausgekommen ist eine fast 500-seitige Dissertation, welche die bisherige Forschung zum ,Staatsrecht‘ in der Metaphysik der Sitten auf den Kopf stellt. In diesen Tagen ist sie beim Frankfurter Traditionsverlag „Klostermann“ erschienen. Dem 32-Jährigen gelingt es, einen gänzlich neuen Blick auf den alten Text zu werfen und dadurch neue Perspektiven für unsere demokratische Gegenwart zu gewinnen.

Welten eröffnen

„Kants Text zum Staatsrecht ist spröde, sperrig und verstaubt, ja fast langweilig. Was ich tue: Auf dieser Grundlage errichte ich ein neues Gebäude mit verschiedenen Etagen, sodass man den eigentlichen Text aus der Nähe und zugleich aus der Ferne betrachten kann, aus verschiedenen Höhen und verschiedenen Blickwinkeln. Dadurch eröffnen sich dann aber auch unterschiedliche Perspektiven auf die moderne Demokratie, auf ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ja dadurch eröffnen sich neue Welten“, so beschreibt Martin Welsch sein Vorgehen.

Es sei schwer zu beschreiben, was er da konkret tue: „Ich sehe mich nicht als klassischen Wissenschaftler, der morgens ins Labor geht, bestimmte Dinge tut und abends seinen Kittel abstreift, um sich anderen Dingen zu widmen. Es ist für mich eine besondere Tätigkeit, eine Tätigkeit mit existenzieller Bedeutung.“

Welt des Rock ’n’ Rolls

Dass er einmal als Philosoph arbeiten, forschen und eben auch leben würde, hätte er als Kind oder Jugendlicher nicht im Entferntesten gedacht: „In der Schule war ich vermutlich der letzte, den die Lehrer:innen eines Tages als Promotionsstipendiaten der Studienstiftung gesehen hätten“, formuliert es Welsch sehr deutlich. Seine Welt war die der Stromgitarren: „Rock ’n’ Roll war meine Welt – und ist es immer noch.“

Welt der Wissenschaft

Er studierte Anglistik und Romanistik in Heidelberg – und besuchte nebenbei Vorlesungen in der Politikwissenschaft. Es ist Klaus von Beyme, einer der kreativsten und angesehensten deutschen Politikwissenschaftler, der Welsch eine weitere Welt eröffnete: „Professor von Beyme war damals schon emeritiert, aber er hat mich auf Anhieb mitgerissen. Seine Vorlesung reichte von Luther bis Luhmann – eine rasante Fahrt durch die deutsche Geschichte – Soziologie, Kunst und Geschichte inbegriffen. Dieser breite Horizont hat mich von der ersten Minute an fasziniert. Von dem Punkt an war ich dabei!“ Die Konsequenz: Welsch beginnt, Philosophie zu studieren.

Welt der Philosophie

2015 besteht der damals 26-Jährige sein erstes Staatsexamen fürs Gymnasiallehramt mit den Fächern Philosophie und Politikwissenschaft – mit Auszeichnung. „Aber mir war immer klar, dass ich nicht Lehrer werden will“, sagt Welsch.

Eine weitere Schlüsselfigur in Welschs Leben und ein Wegbegleiter ist Hans Friedrich Fulda, Jahrgang 1930, emeritierter Professor für Philosophie und international renommierter Hegel-Forscher, dem Welsch im Studium in Heidelberg schon früh begegnet. Er wird schließlich 2016 Welschs Doktorvater. „Ich habe acht Jahre lang in intensiver Zusammenarbeit mit ihm Kommentare zu Kants ,Staatsrecht‘ erstellt. Professor Fulda hat mich nicht wenige Male dazu bewegt, noch einmal ganz von vorn zu beginnen. Nur so konnte ich das philosophische Kommentieren erlernen“, so Welsch.

„In meiner Dissertation bürste ich die Geschichte der repräsentativen Demokratie und der politischen Philosophie der Neuzeit gegen den Strich. Und zwar so, dass sich die Möglichkeit einer neuen Zukunft der Demokratie eröffnet“, erklärt Welsch, der von 2016 bis 2019 als Promovend von der Studienstiftung gefördert wurde. In jener Zeit nimmt er an verschiedenen Doktorand:innenkolloquien der Studienstiftung teil: „Es war unglaublich bereichernd, Menschen mit so unterschiedlichen Projekten aus verschiedenen Disziplinen zu treffen.“

Neue Welten

2020 beendet er seine Dissertation an der Universität Heidelberg mit Auszeichnung. Seinen Blick richtet Welsch nun gen Norden. Seit 2021 arbeitet er als Postdoktorand an der noch jungen Europa-Universität Flensburg. Unter der Betreuung von Hauke Brunkhorst (Soziologie), Anne Reichold (Philosophie) und Anna Katharina Mangold (Rechtswissenschaft) startet er ein neues Projekt – dieses Mal nicht nur mit Kant, sondern auch mit Rousseau und Nietzsche: „Diese Denker bringe ich in einen Dialog miteinander – und zwar um neue Perspektiven zu eröffnen für die gegenwärtige Debatte um die genetische Menschenveränderung und den Trans- und Posthumanismus“. In den kommenden drei Jahren will Welsch die Positionen Kants, Rousseaus und Nietzsches rekonstruieren, in Verhältnis zueinander setzen und wieder aus verschiedenen Perspektiven betrachten – indem er ein weiteres Gebäude mit mehreren Stockwerken baut.

In diesem Zusammenhang forscht der Philosoph 2022 als Gastwissenschaftler an der Université Paris 1, Panthéon-Sorbonne, und 2023 an der John Cabot University in Rom. „Für das Vorhaben arbeite ich also mit drei Universitäten in drei Ländern zusammen und werde von Vertretern dreier Disziplinen betreut“, resümiert Welsch.

Welschs Kosmos

Eine weitere große Leidenschaft des Postdoktoranden ist das Kino, die Filmkunst: „Filme, Musik und Literatur, daraus besteht mein Kosmos.“  Er hätte sich nämlich alternativ durchaus vorstellen können, Regisseur zu werden – und damit hätte Martin Welsch zweifelsohne viele weitere neue Welten eröffnen können.

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Stand: 11. Juni 2021