Private Beiträge zum Gemeinwohl: soziale Investitionen, soziale Innovationen und Demokratie

Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer. Bürgerbewegungen in der ehemaligen DDR – der Deutschen Demokratischen Republik – und den anderen Staaten Mittel- und Osteuropas hatten mit ihren Protesten die Grundlagen dafür geschaffen. Dieses symbolische Datum markiert einen großen Schritt gesellschaftlichen Wandels, ökonomischer Veränderung und politischen Systembruchs. Nicht immer führt zivilgesellschaftliches Engagement zu derart weitreichenden Folgen. Aber immer ist es im Spiel, wenn sich soziale Innovation Bahn bricht, wenn Lösungen für gesellschaftliche Probleme gefunden werden müssen.

Soziale Innovationen gelingen nicht ohne die Beteiligung der Zivilgesellschaft! Was spricht für diese prägnante These? Wo der Problemdruck am deutlichsten wahrgenommen wird – oft in den konkreten Zusammenhängen des Alltagslebens in Gemeinden, Familien, sozialer Lebenswelt –, reagieren zunächst Einzelne mit neuen Wahrnehmungsmustern, Ideen und Vorgehensweisen. Um das gesellschaftliche Problembewusstsein zu prägen, bedürfen diese Einzelinitiativen der Verbreitung, die in unseren demokratischen Gesellschaften wiederum der Öffentlichkeit und ihrer Debatten bedarf. Diese Debatten erzeugen Legitimität, bündeln Kompetenz, ermöglichen das Ringen um Lösungsansätze und mobilisieren Unterstützung für Lösungen. Wissenschaft und ihre Einrichtungen haben schon in diesem Stadium sozialer Problemlösungsprozesse einen prominenten Platz: Sie sind im Idealfall in einem transdisziplinären Verständnis – also in einer Perspektive, die Wissenschaft und Praxis nicht nur in einer Transferbeziehung sieht, sondern von der Themenstellung an verknüpft betrachtet – ein zentraler Ort, von dem Evidenz zur Problemlage, Kompetenz zur Entwicklung von Lösungen, das Verständnis von Professionalität und die Entwicklung von Lösungen ausgehen.

Dr. Volker Then, Alumnus der Studienstiftung, ist geschäftsführender Direktor des Centrums für soziale Investitionen und Innovationen der Universität Heidelberg.

Die besondere Bedeutung der Zivilgesellschaft erweist sich aber auch darin, dass es grundlegend unterschiedliche Strategien sozialer Innovation gibt: Die Innovation kann über einen „sozialunternehmerischen“ Ansatz auf Marktkräfte und Kundenverhalten setzen. Sie kann aber auch über soziale Bewegungen und politische Themenanwaltschaft auf politische Reformen hinarbeiten. Oder sie kann die Selbstorganisationskräfte lokaler Gemeinschaften und ihrer Bürgerinnen und Bürger mobilisieren und soziale Netzwerke aufbauen. Für jede dieser Strategien ist die Öffentlichkeit der Zivilgesellschaft eine zentrale Voraussetzung: Sozialunternehmen brauchen Investoren und Kunden, deren Verhalten von veränderten Wertvorstellungen geprägt wird. Politische Reformen brauchen Mehrheiten, die durch die Mobilisierungsleistung von NGOs und sozialen Bewegungen vorbereitet werden. Und lokale soziale Netzwerke brauchen den Aufbau von Sozialkapital und Vertrauensstrukturen.

Jeder dieser Prozesse ist darauf angewiesen, dass in der Zivilgesellschaft die sozialen Investitionen aufgebracht werden, mittels derer Bürgerinnen und Bürger ihren Beitrag zur sozialen Problemlösung leisten, sei es durch ihre Zeit und ihren freiwilligen Einsatz, sei es durch ihr Geld in Spenden- oder Stiftungsform, und zunehmend durch ihr Geld in Form gezielter Investitionen mit direkter sozialer Wirkung, sei es durch das Eintreten für ihre Wertvorstellungen, oder sei es durch die Beteiligung an allen alltäglichen Formen sozialer Netzwerke und Vertrauensbeziehungen. Soziale Investitionen sind also weit mehr als Finanzkapital für soziale Aufgaben: Sie sind die Grundlage der Zivilgesellschaft in einer Demokratie. Es sind die privaten Beiträge der Bürgerinnen und Bürger zum Gemeinwohl, die eine lebendige Demokratie ausmachen.

Wer sich für das Gemeinwohl einsetzt, ermöglicht mit seinen oder ihren Ressourcen in einem wirtschaftlichen Sinn Produkte und Leistungen, die Lebensqualität anderer Menschen ausmachen, zum Beispiel in der Hilfe für Ältere, Kinder und Jugendliche, Menschen mit Beeinträchtigungen oder auch einfach im Zusammenleben in Nachbarschaften. Zugleich stärkt dieses private Engagement jedoch die Bildung von „Sozialkapital“, also der vielfältigen Formen sozialer Netzwerke und Vertrauensbeziehungen, in denen Bürgerinnen und Bürger gemeinsam leben und handeln. Wer sich gemeinsam mit anderen für das Gemeinwohl engagiert, vertritt zugleich seine Wertvorstellungen, wie das Zusammenleben in der Gesellschaft und die Lösung gesellschaftlicher Probleme gelingen können. Das ist implizit zugleich ein politischer Beitrag zur Gesellschaft: Das gemeinsame Eintreten für Wertvorstellungen und konkrete Gemeinwohlaufgaben bildet den Kern der Themenanwaltschaft. Themenanwalt ist, wer Menschen und Problemen seine Stimme leiht, die sonst nicht ausreichend Gehör fänden, nicht ausreichend auf der Tagesordnung von uns allen stünden.

Nicht immer, wenn Menschen gemeinsam handeln, dient dies dem Gemeinwohl. Wer gemeinsam mit anderen Sozialkapital bildet, wer gemeinsam mit anderen seine Wertvorstellungen und seine politischen Anliegen vertritt, wer seine Ressourcen – sei es Geld, sei es Zeit – einsetzt, muss sich daran messen lassen, ob dies von den Werten der Demokratie geleitet ist. Wer sein Engagement für die hemmungslose Verfolgung von Partikularinteressen, für die Ausgrenzung anderer, gar für die Verletzung von Menschenwürde und Rechten anderer verwendet, bildet nicht zivilgesellschaftlichen Kitt der Demokratie, sondern betreibt die Spaltung der Gesellschaft. Robert Putnam, namhafter Sozialwissenschaftler aus Harvard, unterscheidet „Bridging“ und „Bonding Social Capital“ – Formen des gemeinsamen engagierten Handelns, die auch Menschen unterschiedlicher Wertvorstellungen zusammenbringen, von solchen, die Beziehungen nur zu „ihresgleichen“ unterhalten. Demokratie lebt von den Brückenbauern, nicht von den normativen Gewissheiten segregierter Cliquen.

Zivilgesellschaftliches Engagement muss sich daran messen lassen, von welchen Werten es sich leiten lässt. Es muss sich auch an Menschenrechten und Menschenwürde messen lassen. Und umgekehrt muss sich Demokratie daran messen lassen, wie engagiert ihre Bürgerinnen und Bürger sie leben. Vor 30 Jahren kümmerten sich die engagierten Bürgerinnen und Bürger montags um die Freiheit, heute kümmern sich vor allem die Jüngeren freitags um eine nachhaltige Zukunft. Eine lebendige Demokratie wird noch viele Wochentage brauchen.

Der Beitrag erschien wie auch die folgenden Hintergrundinformationen im Jahresbericht 2019 der Studienstiftung.

Hintergrundinformationen: zivilgesellschaftliches Engagement und Innovation im Fokus

Besondere Herausforderungen setzen bei Geförderten und Alumni der Studienstiftung erfreulicherweise immer wieder Kräfte für Engagement frei.

In vielfältigen Formaten und über alle Programmlinien hinweg bearbeiteten Geförderte und Ehemalige der Studienstiftung 2019 gesellschaftspolitisch aktuelle Themen, darunter globale Gesundheit, Digitalisierung, Migration,Bildungsungerechtigkeit, Wissenschaftskrise und vieles andere mehr. Die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen ging dabei vielfach Hand in Hand mit einem Austausch mit politisch, zivilgesellschaftlich, publizistisch oder journalistisch Aktiven sowie der Reflexion eigener Handlungsspielräume  und Standpunkte.

In diesem Sinne beschäftigten sich Geförderte auf der mittlerweile dritten stipendiatisch organisierten Nachhaltigkeitsakademie nicht zuletzt intensiv damit, wie sie mit Impulsen in die Gesellschaft oder auch konkret in die Studienstiftung hineinwirken können.

Auch die Frage nach der Zukunft der Demokratie und, damit eng verknüpft, den aktuellen Entwicklungen in Europa nahm 2019 einen zentralen Stellenwert ein: Anlässlich „70 Jahre Grundgesetz“ beteiligten sich vier Geförderte mit einem Demokratie-Slam im Mai an den „Bonner Tagen der Demokratie“.

Demokratie war auch das Thema der gemeinsamen Sommerakademie aller 13 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten Begabtenförderungswerke, die 2020 und 2021 fortgeführt wird und unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier steht.

Zum Thema „Private Beiträge zum Gemeinwohl: Soziale Investitionen, Stiftungen, Engagement und Demokratie“ brachte der Alumnus der Studienstiftung Dr. Volker Then in einer der insgesamt 13 Arbeitsgruppen dieser Akademie Geförderte verschiedener Werke in einen Dialog.