Michael Blume: „Wir brauchen wieder einen Bildungsbegriff, der sich seiner jüdischen, christlichen und humanistischen Wurzeln bewusst ist.“

Eine Gespräch mit Michael Blume, dem Antisemitismusbeauftragten des Landes Baden-Württemberg, über den im deutschen Bildungswesen verwurzelten Antisemitismus und den Einfluss des Judentums auf die für Deutschland so konstitutive Idee von Bildung.

Herr Blume, welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach das jüdische Leben im deutschen Bildungssystem? Welche das Bildungssystem für jüdisches Leben in Deutschland?

Die Beziehungen sind tatsächlich sehr viel tiefer, als man gemeinhin weiß. So wurde der Begriff der „Bildung“ selbst aus 1. Moses 1,27 abgeleitet – „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde“. Über eine Auslegung des großen jüdischen Gelehrten Maimonides griffen christliche Theologen den Impuls auf. Der thüringische Theologe und Philosoph Meister Eckhart übertrug ihn in die deutsche Sprache und prägte damit das vielleicht mächtigste deutsche Wort. Allerdings kennt diese Hintergründe leider kaum noch jemand und der Begriff „Bildung“ ist zu einer Sammlung von Titeln und Zertifikaten zum optimalen Gelderwerb geschrumpft. Dabei war genau das die Kritik schon von Maimonides – und dann auch von Eckhart!

In der Arbeit gegen Antisemitismus und Rassismus schließt sich nun der Kreis: Wir stellen fest, dass rein formale Bildung kaum schützt. Schon die berüchtigte Wannseekonferenz von 1942, auf der der begonnene Holocaust an den Juden im Detail organisiert wurde, wurde mehrheitlich von promovierten NS-Juristen bestritten. Und auch heute gibt es einen massiven Antisemitismus von Menschen mit Doktortiteln, die auch die NS-Geschichte sehr genau kennen – und sie umdeuten. Das heißt: Wir brauchen dringend wieder einen tieferen, auch Gefühle und Charakter einbeziehenden Bildungsbegriff, der sich seiner jüdischen, christlichen und humanistischen Wurzeln wieder bewusst wird.

Dr. Michael Blume wurde 1976 in Filderstadt geboren. Nach einer Bankausbildung studierte er Religions- und Politikwissenschaften in Tübingen, wo er auch zu Religion und Hirnforschung promovierte. Blume arbeitet seit 2003 im Staatsministerium Baden-Württemberg und leitete von 2015 bis 2016 die Projektgruppe „Sonderkontingent für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak“. 2018 wurde er zum Antisemitismusbeauftragten des Landes Baden-Württemberg ernannt. Michael Blume ist evangelischer Christ und lebt mit seiner Frau in einer christlich-islamischen Familie mit drei Kindern. In seiner Freizeit betätigt er sich als religionswissenschaftlicher Buchautor, Blogger und Lehrbeauftragter.

Welche Veränderungen wünschen Sie sich?

Wenn ich Maimonides und Eckhart richtig verstehe, dann haben sie dafür plädiert, die im Menschen angelegten Potenziale als Geschenke und Verpflichtung zu entfalten. Also gerade nicht intellektuelle und emotionale, geistige und körperliche Bildung gegeneinander auszuspielen. Auch warnen sie davor, dass sich „Gebildete“ in elitäre Selbstzufriedenheit abschließen. Bildung hätte demnach immer mit Erfahrung und Begegnung zu tun. Interessanterweiseist es auch das, was wir in der Antisemitismusforschung entdecken: Gegen Hass und Vorurteile aller Art hilft nicht abstraktes Wissen alleine, sondern nur die Kombination aus Wissen und Begegnung. Deswegen gibt es ja auch den größten Rassismus regelmäßig dort, wo die wenigsten Zugewanderten leben.

Welche Rolle kann, welche Rolle soll eine Institution wie die Studienstiftung hier spielen?

Wenn ich einen Wunsch frei hätte, dann würde ich mir wünschen, dass die Studienstiftung zum Beispiel gemeinsam mit dem deutsch-jüdischen Begabtenförderungswerk ELES an der Hochschule für jüdische Studien in Heidelberg an dasThema herangeht. Vielleicht können daraus sogar Impulse für die Begabtenförderwerke insgesamt entstehen. Wo „Bildung“ herkommt und was sie im 21. Jahrhundert bedeuten soll – das zu entdecken könnte ein großer Schatz für die gesamte Gesellschaftsein. Und die Förderwerke wären da meines Erachtens genau die richtigen Institutionen, um voranzugehen.

Die Fragen stellte Dr. Annette Julius. Das Interview erschien wie auch die folgenden Hintergrundinformationen im Jahresbericht 2019 der Studienstiftung.

Hintergrundinformationen: Werkstatt-Tag „Jüdisches Leben im deutschen Bildungssystem“

Im Nachgang eines von Stipendiatinnen und Stipendiaten organisierten Vortragsabends zum israelisch-palästinensischen Konflikt im Herbst 2018 kam es zu einem kritisch-konstruktiven Austausch mit dem Bund Jüdischer Studenten Baden e. V. (BJSB) über die Frage, wie eine ausgewogene Meinungsbildung zu jüdischem Leben in Deutschland sowie zur politischen Wahrnehmung von Judentum ermöglicht werden kann. Im Ergebnis vereinbarten der BJSB und die Studienstiftung, gemeinsam einen Werkstatt-Tag zu jüdischem Leben an Schulen und Hochschulen in Deutschland zu organisieren.

Zu dessen Auftakt führte der Antisemitismus-Beauftragte des Landes Baden-Württemberg, Dr. Michael Blume, Beispiele für im deutschen Bildungswesen verwurzelten Antisemitismus vor Augen und zeichnete gleichzeitig den Einfluss des Judentums auf die für Deutschland so konstitutive Idee von Bildung nach. Im weiteren Verlauf des Tages diskutierten dieTeilnehmenden von Studienstiftung und BJSB untereinander und mit den Dozentinnen und Dozenten in vier Workshops, in denen wissenschaftliche Inputs durch einen intensiven, persönlichen Erfahrungsaustausch ergänzt wurden. Auch die Abschlussdiskussion war geprägt durch die Exploration unterschiedlicher Perspektiven – etwa was die Ausgangspositionen jüdischer und nicht-jüdischer Menschen im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit anbelangt.