Page 45 - Jahresbericht 2018
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Deutschlands wieder eins. Der Warschauer Pakt löste sich auf, gefolgt von der Sowjetunion. Immer mehr osteuropäische Staaten traten erst der NATO bei, dann der EU: Europe whole and free. Deutsch- land war nach 44 Jahren angespannter Frontstaat- existenz plötzlich „von Freunden umzingelt“ (Volker Rühe). Nirgends fand die These vom Ende der Geschichte und dem Sieg des Westens durch demokratische Transformation und Verrechtlichung der internationalen Ordnung mehr Beifall als bei den Deutschen. Schließlich waren wir die Weltmeister der Läuterung. Wir genossen die Friedensdividende in vollen Zügen. Einige McCloys zog es in den Staatsdienst oder die Politik. Die meisten gingen indes in die Wirtschaft oder arbeiteten für Nichtregierungsorganisationen, Thinktanks und Stiftungen; ich wurde Journalistin. Die Fundamente unserer Welt schienen ja im Großen und Ganzen stabil. Es gelang uns, die McCloy-Auswahlkommission zu entern. So wurden die nächsten Jahrgänge in Herkunft, Prägung und akademischer Orientierung deutlich diverser. Manche der Neuen hatten auf einmal Nachnamen aus der Türkei und dem Nahen Osten, aus Osteuropa und Russland, aus Asien und Afrika. Es gab sogar mehr Frauen. Die Geschichte hörte aber nicht auf. Jugoslawien versank im Bürgerkrieg. In Ruanda fand ein Völkermord statt, ein weiterer in Bosnien; als dasselbe im Kosovo drohte, schritt der Westen ein. In Russland wurde Putin Präsident. Am 11. Septem- ber 2001 griff eine aus Kabul angestiftete al-Qaida-Zelle die USA an, die Europäer riefen im Nato-Rat den Verteidigungsfall aus. Eine US-geführ- te Koalition vertrieb die Taliban aus Afghanistan; 2003 ging es gegen Saddam Hussein im Irak. Über manche dieser Konflikte und die Versuche, sie einzuhegen – Deutschland war immer öfter dabei –, habe ich berichtet und dabei den Frieden neu schätzen gelernt. Die Traumata unserer Nachbarn und unserer Eltern verstehe ich jetzt besser. 2018 ist das McCloy-Programm 35 Jahre alt geworden. Im vergangenen Jahrzehnt haben sich die Krisen überschlagen, die Einschläge sind näher gekommen: globale Finanzkrise, Ukrainekrise, Eurozonenkrise, Flüchtlingskrise. Die vertrauten Gewissheiten unserer Ordnung – das Völkerrecht, der Westen, Allianzen, die Europäische Union, sogar die repräsentative Demokratie selbst – sind erschüttert und werden von Populisten, Nationalisten und Autoritären bekämpft. Russland und China mischen (weit entfernt davon, sich unserem Vorbild anzunähern) zunehmend aggressiver in der Welt mit. Und im Weißen Haus regiert ein Präsident, der das transatlantische Bündnis für ein Verlustgeschäft und die EU für ein feindliches Projekt hält. Jahrzehntelang haben wir McCloys – mehr als 250 sind es inzwischen – uns leidenschaftlich über den Auftrag gestritten, der uns in Harvard auferlegt wurde und mit dem wir nach Hause zurückkehrten: public service und leadership. Das Alumni-Verzeich- nis gibt Auskunft, wie vielfältig wir an der Gestaltung des Gemeinwesens mitwirken. Aber tun wir genug? Soviel scheint mir jedenfalls sicher: Das technokra- tisch-ökonomische Verständnis von public policy reicht nicht mehr; wir müssen der Politik wieder zu ihrem Recht verhelfen. Und Führung ist kein Anspruch. Sondern ein Dienst. Dr. Constanze Stelzenmüller ist Robert Bosch Senior Fellow bei der Brookings Institution in Washington, D.C., und seit Juni 2018 Mitglied im Kuratorium der Studienstiftung. 44 Im Fokus: die westliche Welt im Umbruch 


































































































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