Page 44 - Jahresbericht 2018
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35 Jahre McCloy-Programm Constanze Stelzenmüller über mehr als drei Jahrzehnte transatlantischer Beziehungen 1986: Der vierte Jahrgang der McCloy Scholars bestand aus acht Studenten. Zwei waren dreißig, was dem 24-jährigen Rest unfassbar alt vorkam. Nur zwei waren Frauen, aber das erschien nicht mal uns beiden erstaunlich. Ich war froh, Deutschland hinter mir gelassen zu haben. Mein Bonner Jurastudium in der ersten Hälfte der 80er, das waren Professoren, die höchst sparsam waren mit Worten zur Verstrickung ihrer akademi- schen Lehrer im Nationalsozialismus, Kommilitonen in schlagenden Verbindungen, 300.000 Anti- Pershing-Demonstranten auf der Hofgartenwiese. Außerdem (wegen der RAF) Nato-Stacheldraht um die Ministerien und Polizei in Schützenpanzern. Punks gab es auch. In Köln. Dass die Gerontokraten im Kreml und im KGB damals überzeugt waren, sich gegen einen drohenden atomaren Erstschlag der USA wappnen zu müssen – notfalls mit einem eigenen Präventiv- angriff –, erfuhr die Welt erst viel später. Der Kalte Krieg, die Teilung von Europa und Deutschland und eine kriegstraumatisierte Elterngeneration: Dieser Ausnahmezustand erschien uns als der endlos bleierne Normalfall, mit dem wir alt werden würden. Unsere Ankunft im vor Selbstbewusstsein strotzenden Amerika der Reagan-Ära war eine Befreiung. Fernab von unseren alten Bindungen (Flugreisen, Telefon, deutsche Zeitungen waren alle prohibitiv teuer) erfanden wir uns und einander neu. Zuhause hätten wir uns beinahe daran gewöhnt, als Erben des Nachkriegsfriedens durchs Leben zu gehen. Harvard aber verlangte, wir sollten lernen, wie Architekten und Gründer zu denken und zu handeln. Bei unseren Kursen in public policy wurden wir ange- halten, Probleme nicht bloß zu diagnostizieren, sondern zu lösen. Public service, das wurde uns schnell klar, war so viel mehr als Öffentlicher Dienst. Man wollte von uns nicht nur Ausführungen sehen, sondern (unerhört!) leadership, Führung. Wir Frauen waren fassungslos, die US-Kommilitoninnen über Karriereplanung reden zu hören wie, nun ja, Männer. Das alles war elektrisierend. Was Wunder, dass manche von uns dablieben. Was sollte uns schon zurückrufen? Famous last words, wie man in Amerika sagt ... Den 9. November 1989 erlebte ich noch in Cambridge: in körnigen Schwarzweißbildern auf dem Truhenfernseher meiner WG in Somerville. Beim Anblick der tanzenden Ostberliner brach ich in Tränen aus, von meinen Gefühlen noch mehr überrascht als vom Ereignis selbst. Eine Vorahnung des Kommenden gab mein letzter Abend in Amerika: ein Essen unseres Programmdirektors Jim Cooney für – ausgerechnet – Hermann Kant, den der Mauerfall auf Lesereise im Land des Klassenfeinds ereilt hatte. Der DDR-Staatsschrift- steller starrte grimmig auf seinen Teller, einer seiner beiden Aufpasser nagte schweigend an seinen Fingernägeln. Der andere verteilte strahlend seine Visitenkarte: „Vielleischt sieht man sisch ja mal wieder!“ Wir Veränderten kehrten zurück in ein Land, das sich ebenfalls radikal verändert hatte. 1990 wurden beide Constanze Stelzenmüller ging Mitte der 1980er als McCloy-Stipendiatin in die USA. Im Fokus: die westliche Welt im Umbruch 43 


































































































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