Page 42 - Jahresbericht 2018
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rigste in der EU ist, deuten die jüngsten Eurobaro- meter-Umfragen darauf hin, dass die Tschechen gegenüber der europäischen Integration mehr Zu- rückhaltung zeigen als die berüchtigten euroskepti- schen Briten. Tunis steht exemplarisch für die Regionen, mit de- nen Europa zusammenarbeiten muss, um Lösun- gen für europäische Probleme – wie die Migrations- politik – zu finden. Die letzte Station wird uns nach Brüssel führen: die Hauptstadt Europas, Dreh- und Angelpunkt der Europapolitik. Ein absolutes Muss für alle Europainteressierten. Wie gilt es, Europas Zukunft weiter zu denken? KAEDING: Es fehlt in Europa an nationaler politi- scher Eigenverantwortung. Dabei geht es in allen Ländern der EU darum, sich darüber klar zu wer- den, welche Probleme wir auf nationaler Ebene lösen können und für welche Probleme nationale Lösungsansätze zu kurz greifen. Die aktuelle De- batte über die Zukunft Europas muss diesbezüglich in allen Mitgliedsstaaten an Dynamik gewinnen, so dass sich alle Länder auf allen Ebenen mit Europa auseinandersetzen und bereit sind, das europäi- sche Projekt weiter zu gestalten. Nationale Diskussionen über Europa müssen im Fo- kus stehen und in Brüssel zusammengeführt wer- den. Jedes EU-Mitgliedsland hat seine ganz eige- nen Gründe, Teil der EU zu sein und zu bleiben. Sie entwickeln sich in verschiedenen politischen Land- schaften. Dies gilt es zu verstehen. Das Kolleg Europa bietet hierfür ein sehr schönes Format. Interview: Cordula Avenarius, Tanja Döller n Populismus: der dunkle Schatten der Demokratie Zukunft. Future. Expeditionsakademie Cambridge Kaum ein Begriff ist derzeit so allgegenwärtig wie der des Populismus. Er ist Gegenwartsanalyse, Diffamierungsinstrument und zunehmend auch Forschungsgegenstand der Sozialwissenschaften. Eindrücklich beschreibt Jan-Werner Müller ihn in seinem Buch What Is Populism?, veröffentlicht 2017, als den dunklen Schatten, der die Demokratie verfolgt. Er bedrohe sie und sei zugleich Teil von ihr. Die Arbeitsgruppe „Democracy and Populism“, welche Professor Hartmut Behr und Dr. Felix Rösch im Rahmen der Expeditionsakademie der Studi- enstiftung (13.–22.9.2018) am St. John’s College in Cambridge anboten, setzte sich kritisch mit Texten von so unterschiedlichen Denkerinnen und Denkern wie Chantal Mouffe, Hannah Arendt, Karl Jaspers, Zygmunt Bauman und eben oben genanntem Jan-Werner Müller auseinander. Sie alle ermöglich- ten es uns, insbesondere in ihrer Zusammenschau, mit der uns Behr und Rösch vertraut machten, den Begriff des Populismus deutlicher auszuleuchten und so die Konturen des dunklen Schattens sichtbar zu machen. Stellt man sich, wie von unseren Arbeitsgruppenlei- tern als Hypothese für den Workshop vorgeschlagen, Demokratie als ein Ausbalancieren unterschiedlicher Kräfte in einem gleichseitigen Dreieck vor, welches den politischen Willen (Wollen) auf seine Umsetzbar- keit hin prüft (Governance; Können) und ihn mit dem an einer republikanischen Moral orientierten Fundament (Sollen) in Einklang bringt, so kann Populismus als Überbetonung des politischen Willens interpretiert werden. Ein zentrales Charakteristikum populistischer Politiker oder Parteien ist dementsprechend, dass sie einen vermeintlich feststehenden, von politischen Eliten jedoch augenscheinlich ignorierten „Willen des Volkes“ beschwören und gleichsam überbetonen. Durch diese Überbetonung und gleichsam Ignoranz gegenüber der „Sollens“- und „Könnens“-Komponente bringen Populisten jenes „demokratische Dreieck“ aus der Balance und stellen den anfangs erwähnten dunklen Schatten der Demokratie dar. Dabei ist der politische Wille eben nur ein Aspekt des demokrati- schen Dreiecks und darüber hinaus laut dem US-amerikanischen Politikwissenschaftler Robert Alan Dahl auch immer bis zu einem gewissen Punkt nur hypothetisch, also nicht feststehend. In Demokratien ist hingegen die Neuaushandlung politischer Überzeugungen stets ein zentrales Element. Im Fokus: die westliche Welt im Umbruch 41 


































































































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