Jahresbericht 2013 - page 6

4
Vorwort des Präsidenten
WEITERGEBEN
Unsere kulturelle Überlieferung ist voll von erstaunlichenGeschichten.
Eine davon betrifft Arbeiter in einem Weingut, die für ungleiche Ar-
beit gleichen Lohn erhalten. Die ersten dieser Arbeiter, die „des Tages
Last und Hitze“ getragen haben, erhalten am Abend den vorher ver-
sprochenen und, wie man annehmen darf, angemessenen Lohn. Doch
dann müssen sie mitansehen, wie andere Arbeiter, die erst am späten
Nachmittag mit der Weinlese begonnen haben, genau denselben Lohn
erhalten. Damit sind sie, wie sich leicht denken lässt, unzufrieden;
sie „murren“ gegen den Gutsbesitzer, der sie jedoch darauf hinweist,
dass sie genau das empfangen haben, was mit ihnen vereinbart war
(Matthäus 20, 1-16). Handelt der Weingutsbesitzer den Ersten gegen-
über gerecht oder nicht? Ist diese Frage strikt nach der Abrede der Ver-
tragsparteien zu beurteilen oder (auch) anhand eines Vergleichs mit
dem, was die anderen Arbeiter erhalten? Den meisten von uns wird die
formal gleiche, substantiell aber ungleiche Entlohnung als willkürlich
erscheinen. Das liegt vermutlich daran, dass wir uns mit den ersten
Arbeitern identifizieren. Tatsächlich besteht aber eine besondere, und
wenig beachtete, Pointe dieser Geschichte darin, dass wir uns auch und
vor allem in der Position der letzten Arbeiter befinden. Wir meinen
zwar, für unsere Arbeit den angemessenen Lohn zu empfangen, oder
auch für gute Leistungen eine verdiente Ehrung. Aber woher haben wir
die Arbeitskraft, die Talente, und die Ausbildung, die uns zu derartigen
1,2,3,4,5 7,8,9,10,11,12,13,14,15,16,...252
Powered by FlippingBook