Finalistin: Lizge Yikmis, Haydee!

Matching für bessere Bildungschancen: Wie eine Onlineplattform Kinder mit Studierenden und Berufstätigen zusammenbringt und Eins-zu-eins-Nachhilfe ermöglicht

Miraz geht in die sechste Klasse. Während der COVID-19-Pandemie suchte er Nachhilfe in Mathematik, Deutsch und Biologie und hat sich deshalb bei der Onlineplattform „Haydee!“ angemeldet. Dort können Schülerinnen und Schüler angeben, wobei sie Hilfe brauchen. Dann wird eine passende Mentorin oder ein Mentor zugewiesen. Die Studentin Lizge Yikmis hat diese kostenlose digitale Eins-zu-eins-Nachhilfe entwickelt. Mittlerweile betreut der Verein über 650 Kinder in ganz Deutschland. Die 26-Jährige unterstützt mit dem Projekt sozial benachteiligte Kinder, denen es nicht an Potenzial, sondern an der sprachlichen und individuellen Förderung fehlt.

Lizge Yikmis ist in Mainz geboren und aufgewachsen. Zum Bachelorstudium „Management, Philosophy and Economics“ zog sie nach Frankfurt am Main. Seit 2020 studiert die 26-Jährige „Public Economics“ im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften an der Freien Universität Berlin sowie seit Herbst 2021 an der London School of Economics and Political Science.

Während sie sich im Studium mit Ungleichheiten unter anderem aus volkswirtschaftlicher Perspektive befasst, wirkt sie in ihrem gesellschaftlichen Engagement Bildungsungleichheiten entgegen. Zu Beginn der COVID-19-Pandemie, im April 2020, gründete Lizge Yikmis den Verein „Haydee! e.V.“, der sich für sozial benachteiligte Kinder einsetzt und ihnen kostenfreie digitale Nachhilfe anbietet.

Seit 2016 ist Yikmis Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes.

Interview mit Lizge Yikmis

Frau Yikmis, derzeit studieren Sie in London – Ihren Mentee, einen 13-jährigen Schüler aus Hanau, nehmen Sie per Video-Call mit über den Londoner Universitätscampus.

Ich kann meinen Mentee in Hanau von überall aus – ob Berlin oder London – digital unterstützen. Das Entscheidende ist, dass er Lust am Lernen hat. Seit einem Monat lebe ich in Großbritannien, gerade habe ich meinem Mentee die Universität per Videochat gezeigt und kommentiert: „Hey, das sind Möglichkeiten, die es da draußen gibt!“ Er findet die Einblicke cool. Es geht darum, Kindern ihre Potenziale aufzuzeigen und sie zu ermutigen, nach höheren Bildungswegen zu streben.

Mit „Haydee!“ haben Sie im Frühjahr 2020 eine Onlineplattform entwickelt, auf der Kinder und Studierende zusammenfinden, um ein Nachhilfe-Tandem zu bilden. Wie hat Ihr Mentee von dem „Haydee!“-Programm erfahren?

Mein Mentee aus Hanau hat von Freunden vor einem Jahr von „Haydee!“ erfahren, sie sagten ihm: „Geh da hin!“ Viele Kinder kommen über Empfehlungen von Freundinnen und Freunden selbst auf uns zu. Seit einem Jahr begleite ich den 13-Jährigen, seine Eltern können ihm aufgrund sprachlicher Hürden nicht bei Schulaufgaben helfen und er war zu Hause komplett auf sich gestellt. Unser Mentoring bedeutet mehr als über eine Schulaufgabe zu sprechen, wir bestärken und begleiten Kinder, wirken als Vorbilder  und zeigen ihnen neue und potenzielle Wege auf. Mein Mentee bringt sich derzeit eigenständig das Programmieren bei – darüber tauschen wir uns genauso aus wie über meinen Uni-Alltag in London.

Über die Online-Plattform „Haydee!“ bekommen Kinder und Jugendliche, die sich Nachhilfe nicht leisten können, eine feste Mentorin oder einen Mentor für kostenfreie Nachhilfe zugeteilt.  

Wie kamen Sie auf die Idee, „Haydee!“ zu gründen?

Mit dem ersten Lockdown in der COVID-19-Pandemie habe ich „Haydee!“ im April 2020 gegründet. Im Frühjahr 2020 schlossen nicht nur die Schulen ihre Tore, sondern auch Jugendzentren, Sportvereine und ähnliche Einrichtungen machten dicht. Damit fehlten gerade für förderbedürftige Jugendliche jene Orte, an denen sie zum Beispiel von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern – die zum Teil mit den Schulen kooperieren – auf ihrem Bildungsweg unterstützt werden. Es gab keinen Back-up-Plan, der die Kinder zu Hause aufgefangen hätte. Ich habe in meinem persönlichen Umfeld erlebt, wie Kinder in ihrer schulischen Bildung zurückgefallen sind. Niemand wusste, wie lange die Pandemie geht. Unsere Nachhilfe fing klein an, anfangs sind wir den Schulen hinterhergelaufen, schrieben sie an und haben unser Angebot bekannt gemacht.

Mittlerweile kooperieren Sie unter anderem mit Bildungsministerien, etwa in Hessen und Rheinland-Pfalz. Schulämter rufen Sie an, um Mentorinnen und Mentoren mit Familien zusammenzubringen. An wen richtet sich Ihr Programm vor allem?

Die COVID-19-Pandemie verschärft und verdeutlicht Ungleichheiten im Zugang zu Bildung. Mit „Haydee!“ erreichen wir Kinder und Jugendliche aus nicht-akademischen Haushalten oder aus Familien mit Migrations- oder Fluchtgeschichte, die sich selbst keine Nachhilfe leisten können. Wir bieten ihnen bundesweit niedrigschwellige digitale Nachhilfe an. Durch unseren digitalen Ansatz können wir passende Tandems miteinander in Kontakt bringen, ganz egal, wo die Mentees, Mentorinnen und Mentoren wohnen. Unsere Mentorinnen und Mentoren sind selbst junge Studierende und Berufstätige mit bunten Hintergründen, die sich gut mit den Mentees identifizieren können. Die vielseitigen Lebensläufe zeigen, dass man mit unterschiedlichen Startmöglichkeiten tolle Ziele erreichen kann. Viele der Mentorinnen und Mentoren kommen seit einem Aufruf im vergangenen Jahr aus der Studienstiftung.

„Wir bringen passende Tandems miteinander in Kontakt, ganz egal, wo die Mentees, Mentorinnen und Mentoren wohnen. 650 Mentees haben bisher unsere Förderung durchlaufen.“

Wie genau funktioniert diese digitale Nachhilfe und das Matching zwischen Mentee und Mentorin oder Mentor?

Über unsere Website können sich bedürftige Schülerinnen und Schüler (Mentees) und potenzielle Mentorinnen und Mentoren kostenlos anmelden. Oftmals werden die Schülerinnen und Schüler über ihre Schule, Freunde und Familie sowie Soziale Medien auf uns aufmerksam. Im Anmeldeprozess wird die Bedürftigkeit der Mentees über einen Sozial- oder Familienpass nachgewiesen. Gleichzeitig muss ein Einschätzungsschreiben zum Beispiel einer Lehrerin oder eines Lehrers eingereicht werden. Durch die Angabe der Nachhilfefächer wird ein größtenteils automatisierter Matching-Prozess ermöglicht. Mit den Mentees und potenziellen Mentorinnen und Mentoren wird vor der Paarbildung ein persönliches Gespräch geführt. Zusätzlich verlangen wir von den Mentorinnen und Mentoren ein polizeiliches Führungszeugnis. Anschließend erhalten beide eine feste Ansprechperson aus dem „Haydee!“-Team, an die sie sich bei Problemen in der Nachhilfe wenden können. Zum Einstieg wird ein erstes Treffen zu dritt vereinbart. Das Lernverhältnis wird auch danach noch eng vom ehrenamtlich arbeitenden „Haydee!“-Team betreut. Die Lernpaare treffen sich ausschließlich digital. Einigen Kindern können wir mittlerweile die technische Hardware in Form von Leihgeräten zur Verfügung stellen.

Was haben Sie bereits bewirkt?

Wir haben über 300 Tandems zusammengeführt, die teilweise seit Frühjahr 2020 miteinander lernen. Das Team ist zudem von sieben Gründerinnen auf 34 Teammitglieder gewachsen, die sich in Fachgruppen bestimmten Themen widmen und zum Beispiel die Mentorinnen und Mentoren betreuen. So konnten wir bereits über 650 Kindern und Jugendlichen Unterstützung und Begleitung im Schulalltag zur Seite stellen.

Gemeinsam erarbeiten die etwa 300 Lerntandems aktuelle Schulaufgaben oder bereiten sich auf anstehende Prüfungen vor. Die Nachhilfe findet online über ein Smartphone, Laptop oder Tablet statt.

In welchen Städten erreichen Sie Kinder zum Beispiel?

Ich habe noch einmal in die Liste geschaut und weiß ehrlich gesagt nicht, wo ich anfangen soll. Wir erreichen Mentees beispielsweise in den Großstädten Hamburg, Leipzig, Berlin, Bremen, Frankfurt, Köln und München bis hin zu kleinen Städten wie Koblenz, Worms, Birkenfeld und Fulda.

Was bedeutet der Name Ihrer Onlineplattform „Haydee“?

„Haydee“ ist ein Internationalismus – ein Wort, das in gleicher Bedeutung und gleicher oder ähnlicher Form in verschiedenen Kultursprachen vorkommt – und tritt in den südosteuropäischen Sprachen auf. Im Türkischen meint der Ausruf „haydi!“ „los!“, „voran!“ oder „nur zu!“. Im Serbischen bedeutet „Ajde!“ so viel wie „los!“ und im Rumänischen wird der Ruf „Haide!“ äquivalent zum deutschen „Na komm!“ genutzt.

Wofür möchten Sie die Spendengelder einsetzen?

Das interne Team, das für „Haydee!“ die gewaltige Arbeit leistet, wirkt komplett ehrenamtlich. In den letzten Monaten wurden insbesondere Digitalisierungsprozesse und Kooperationen vorangebracht und dementsprechend war auch der zeitliche Aufwand sehr hoch und als ehrenamtliche Gruppe kaum noch zu stemmen. Gleichzeitig wächst „Haydee!“ täglich weiter. Damit wir bei alldem die Qualität unserer Arbeit aufrechterhalten können, benötigen wir eine hauptamtliche Unterstützungskraft. Vielen Kindern fehlt es zudem an der notwendigen technischen Grundausstattung wie WLAN, Laptop oder Tablet oder auch an einem richtigen Lernarbeitsplatz. Auch in diesen Bereichen möchten wir verstärkt den Kindern zur Seite stehen und sie unterstützen.

Wie können Personen Ihr Projekt sonst noch unterstützen?

Wir freuen uns über Zuwachs für unser Organisations-Team. Hier gibt es für alle Interessen etwas: vom Kommunikations-Team über das Strategie-Team bis zur Akquise von Mentorinnen und Mentoren. Jederzeit sind Menschen willkommen, die unseren Mentees Nachhilfe geben möchten. Wir freuen uns über jede neue Person, die sich mit uns gemeinsam für Bildungsgerechtigkeit einsetzen möchte.

Wie kamen Sie zur Studienstiftung?

Ich war Stipendiatin im START-Stipendium, über das Stipendienprogramm für talentierte Jugendliche mit Migrationsgeschichte wurde ich dann für die Studienstiftung des deutschen Volkes vorgeschlagen. Für diese Möglichkeit war ich sehr dankbar, da Schulen oft einzig und allein auf die Noten achten und weitere Faktoren, wie beispielsweise das gesellschaftliche Engagement, nicht zur Genüge gewichten. Seit dem ersten Bachelorsemester bin ich in der Studienstiftung und profitiere zum Beispiel von der Auslandsförderung.

Für ihren Einsatz zeichnet die Studienstiftung des deutschen Volkes Lizge Yikmis als Finalistin im Rahmen des Engagementpreises 2022 aus.

Weitere Informationen, Kontakt und Spendenmöglichkeit

<< Zurück zur Übersichtsseite